Beim Besuch des diesjährigen SRD Tutorials, in welchem das Thema Kreativitätstechniken abgehandelt wurde, konnte ich lernen was Struktur im Kreativitätsprozess bedeutet und mich von Neil Maiden überzeugen lassen, wieso das Eine das Andere nicht ausschliesst.
Spannendes SRD Tutorial
Jedes Jahr finden im Rahmen des Swiss Requirements Days auch Tutorials statt. Dabei handelt es sich um tägige Workshops zu aktuellen Requirements Engineering (RE) Themen. Dieses Jahr hatte ich das Vergnügen einer solchen Veranstaltung beizuwohnen und mit Professor Neil Maiden der City University London über das Thema "Creativity Techniques for Requirements Projects" zu diskutieren.
Am Vormittag hat Neil die Teilnehmer in die "Welt der Kreativität" eingeführt. Es wurden Kreativitätsbeispiele aufgezeigt, wie zum Beispiel die englische Taxi App HailO (jetzt free-now), welche von 3 Fahrern der schwarzen London Taxis erdacht wurde. Am Nachmittag bearbeiteten die Teilnehmer eine "Creativity Challenge" und präsentierten am Ende ein Story Board zu einem vorgegebenen Thema.
Wo braucht es Kreativität im RE Prozess?
Gemäss Kano-Modell werden Anforderungen in drei Kategorien unterteilt:
- Basismerkmale: Wenn das Produkt Basismerkmale aufweist entsteht beim Kunden noch keine Zufriedenheit. Werden sie jedoch nicht erfüllt, so ist der Kunde unzufrieden. Dadurch sind die Basismerkmale für ein Produkt ein Muss (z. B. das Telefonieren mit einem Smartphone).
- Leistungsmerkmale:Diese können je nach Erfüllungsgrad sowohl für Zufriedenheit als auch für Unzufriedenheit beim Kunden sorgen (z. B. die Stärke des Akkus beim Smartphone).
- Begeisterungsmerkmale:Hierbei handelt es sich um Merkmale, welche einen Aha-Effekt beim Kunden auslösen sollen. Meistens sind dies die innovativen Merkmale (z. B. die Sprachsteuerung beim Smartphone).
Das Ermitteln der Begeisterungsmerkmale, ist nicht simpel. Hierbei können Kreativitätstechniken als Unterstützung dienen. Zum Beispiel können bei der Erstellung einer groben Vision des Systems - dabei verschafft man sich einen ersten Überblick und sammelt innovative Ideen - gewisse Techniken den Anforderungserhebungsprozess beschleunigen oder sogar verbessern.
Grundsätzlich unterscheidet man bei Kreativitätstechniken zwischen intuitiven und systematisch-analytischen Methoden. Intuitive Methoden (z.B. Brainstorming, 6-3-5 Methoder oder Mindmapping) haben den Vorteil viele Ideen in kurzer Zeit zu erzeugen. Systematisch-analytische Methoden (wie morphologischer Kasten oder Kraftfeldanalyse) verwendet man um ein Problem eindeutig, vollständig und überschneidungsfrei abzuhandeln.
Struktur und Kreativität passen nicht zusammen, oder doch?
Bereits während der Begrüssung erwähnte Neil, dass Struktur und Prozess die Kreativität steigern können. Dies klang für mich nach einem sehr grossen Widerspruch. Ich konnte nicht genau verstehen wie Systematik die Kreativität verbessern kann, denn ich erlebe täglich eher das Gegenteil. Von den oben genannten Methoden hatten viele Projektteilnehmer noch nie gehört. Es wird ständig propagiert, dass der Prozess und nicht die Kreativität Vorrang hat, oder dass das Projektbudget es nicht erlaubt kreativ über Verbesserungsvorschläge zu schwadronieren. Kreativität wäre eher etwas für Künstler und das sind, Business Analysten und Requirements Engineers, nicht wirklich.
Die Creativity Workshop Structure
Neil erklärte uns welche Kreativitätstechniken in welchen Situationen angebracht sind. Eine Graphik ist mir dabei ganz besonders aufgefallen und in Erinnerung geblieben.
Der Aufbau dieses Kreativitätsprozesses lehnt sich an das sogenannte Double Diamond Modell an und besteht aus zwei Zyklen:
Erster Zyklus (Diamond):
Dabei wird am Anfang des Prozesses ein Thema vorgegeben. Daraufhin lässt der Moderator die Workshop-Teilnehmer kreativ sein, Ideen zu dem vorgegebenen Thema sammeln. Diese Phase kann durch eine der oben genannten Methoden unterstützt werden (z. B. Brainstorming). Es folgt eine Phase, in der die Ideen nochmals begutachtet und strukturiert werden. Nun ist der erste Zyklus durchlaufen.
Zweiter Zyklus (Diamond):
Beim Durchlaufen des zweiten Zyklus stehen die im ersten Zyklus ermittelten und strukturierten Ideen im Mittelpunkt. Vor dem zweiten Durchlauf wird eine Auswahl von Ideen aus dem ersten Zyklus getroffen. Danach beginnt der zweite Zyklus (Diamond), in welchem die Teilnehmer wieder kreativ sein können. Diesmal werden die vorher ausgesuchten Ideen weiterentwickelt (es werden Ideen zu Ideen gesammelt). Auch hier kann wieder auf eine der oben genannten Methoden zurückgegriffen werden. Auf diese Phase folgt wiederum eine Review, Priorisierung und Strukturierung der gesammelten Ideen, wobei das zu Beginn des Prozesses festgelegte Thema immer noch im Mittelpunkt steht. Am Ende des Double Diamond Prozesses wurden also Ideen "in die Breite" (erster Diamond Zyklus) und "in die Tiefe" (zweiter Diamond Zyklus) gesammelt.
Das Interessante an diesem Vorgehen ist, dass man es branchen- und themenunabhängig durchführen kann. Sei es ein Requirements Elicitation Workshop, oder ein Verbesserungsvorschlags-Meeting oder ein Sammlung von Ideen für eine Mottoparty mit Freunden. Die Visualisierung des Prozesses hat einen Denkanstoss bei mir bewirkt. Jedoch hatte ich immer noch Zweifel an der Theorie, da ich den Double Diamond Prozess noch nie angewandt habe.
So lässt sich der Skeptiker überzeugen
Auf Neil's Präsentation folgte ein praktisches Beispiel, die sogenannte "Creativity Challenge". Wir durften also den Kreativitätsprozess an einem konkreten Beispiel durchlaufen. Wir sollten Ideen zum Thema "Persönliches Flugzeug" sammeln. Neil übernahm die Rolle des Moderators. Schon während der Bearbeitung der "Creativity Challenge" fiel mir auf, dass Neil die Teilnehmer immer wieder an das anfangs festgelegte Thema erinnerte. Meine Zweifel begannen langsam sich aufzulösen. Am Ende der Challenge stellte ich fest, dass wir sehr kreativ beim Ideen-Sammeln sein konnten, jedoch nie den Fokus auf das Wesentliche (das vorab definierte Thema) verloren haben. Ich musste zugeben, dass es wohl doch möglich ist die beiden Themen Prozess und Kreativität zu verbinden. Zum Schluss wurden alle Themen der Teilnehmer in eine Story gegossen und visualisiert (Story Board).
Die Creativity Challenge fand ich persönlich sehr hilfreich, weil dadurch den Teilnehmern zuviel Frontalunterricht erspart geblieben ist. Zusätzlich konnte man den Double Diamond Prozess anhand eines Beispiels besser verstehen und verinnerlichen.
Am Ende des Tutorials hat Neil mich an meine Skepsis am Morgen erinnert und wollte sich erkundigen ob er mich vom Gegenteil überzeugen konnte. Meine Zweifel waren zwar nicht alle beseitigt, jedoch musste ich zugeben, dass Prozess und Kreativität doch vereinbar sind. Es ist Neil tatsächlich gelungen den Künstler und den Business Analyst in mir in Einklang zu bringen.
Der Besuch des SRD Tutorials hat sich sehr gelohnt. Nicht nur weil man viel über Kreativität im Requirements Engineering erfahren konnte. Sondern auch, weil man Kontakte mit Branchenkollegen knüpfen und sich über allgemeine Trends im Requirements Engineering austauschen konnte. Ich werde mein Wissen über Kreativitätstechniken und den Double Diamond Prozess in anstehende Workshops mitnehmen und freue mich jetzt bereits auf das SRD Tutorial im kommenden Jahr.