Requirements Engineering für Digital Health = staubiger Wasserfall?
Aussagen die ich oft zum RE für digitale Anwendungen im medizinischen, klinischen oder diagnostischen Umfeld höre sind:
- Es braucht Fachwissen, nicht Methodenwissen
- Ist Dokument- und Wasserfall-lastig, nicht agil
- Ist nicht innovativ
Stimmt doch, oder? Also nichts für Leute, die am Puls der Zeit arbeiten wollen? Immerhin ist klassisches RE tot! Nicht ganz, oder besser: Kann so sein, muss aber nicht.
Fachwissen, nicht Methodenwissen
Die Meinung, dass nur Fachwissen benötigt wird, ist weit verbreitet – besonders in der Industrie selber. Ich halte diese Aussage aber für grundlegend falsch. Es braucht beides. Genauso wie in jeder anderen Branche, die eine halbwegs komplexe Domäne hat.
Aber kann ich wirklich eher einem „Subject Matter Expert“ Methodenwissen beibringen, als einer methodisch versierten Person das Fachwissen? Beides ist möglich, hängt jedoch stark von der Person und ihrer Einstellung zu Wissenslücken ab.
Erkenne ich fehlendes Wissen als Problem?
Bei fehlendem Fachwissen ist ein Defizit unbestreitbar und offensichtlich. Fehlendes Methodenwissen ist nicht ganz so augenfällig. Auch deshalb wird die Methodenausbildung oft vernachlässigt. Ein IREB FL Kurs allein macht eben noch keinen RE Experten. Wir alle kennen die viel zu oft referenzierten Folgen schlechter Requirements. Und ja ich meine diese Gartner Studie; und nein, ich referenziere sie trotzdem nicht.
Die Problematik eines fehlenden Methodenwissens wird sich mit der zunehmenden Automatisierung und Digitalisierung der Industrie verstärken. Da Interaktion und Kompatibilität von Komponenten, Nutzerfreundlichkeit und Daten-Sicherheits-Aspekte immer wichtiger werden.
Daher muss der Ausbildungsfokus sowohl auf Fachwissen, als auch auf Methodenwissen sein. Bei genügend grossen Projekten kann man bei der agilen Entwicklung abgucken und in Pairing investieren. Das ist besonders effektiv in der Vermittlung von praktischem Methodenwissen.
"Requirements Engineering for Digital Health" (Fricker et al, 2015) enthält interessante Artikel zu diesem Thema. Darunter eine Studie, die zeigt welche RE-Methoden bei Digital Health zum Erfolg führen. Meine Interpretation: dieselben Methoden wie in anderen Branchen auch. Case closed.
Dokumente und Wasserfälle
Dass es in der Digital Health Branche dokumentenlastig zugeht, hat durchaus einen wahren Kern. Allerdings gilt das für alle stark regulierten Bereiche. Ein Grund ist, dass viele Firmen aus einem einseitigen Risikoverständnis die regulatorischen Richtlinien sehr konservativ auslegen. Häufig überwiegt die Furcht vor Audits und einer daraus resultierenden, verspäteten Markteinführung vor dem Willen zu innovativen, marktnahen Produkten und Prozessen.
Mehr und mehr Projekte versuchen kunden- und marktfokussierte Methoden mit den Vorgaben eines regulierten Umfelds zu vereinen: besonders erfolgreich, wenn es darum geht den Patienten und sein Umfeld in die Pflege miteinzubinden (Beispiele in "Requirements Engineering for Digital Health" (Fricker et al, 2015)).
Zunehmend verbreiten sich agile Frameworks zur Umsetzung komplexer Projekte mit erhöhtem Koordinationsaufwand (Vergleich: Agile Frameworks, SwissQ Blog). Auch die Erfahrung der Community, mit der Anwendung dieser Frameworks, trägt wesentlich zu deren Verbreitung bei. Letztlich ist aber der wichtigste Schritt, sich (angelehnt an die Lean Grundsätze) eine Kultur der konstanten Prozessverbesserung anzueignen. Und so jeden Prozess und jede Verwendung von Ressourcen auf Ihren echten Mehrwert zu hinterfragen – regulatorisch oder nicht.
Innovation in Digital Health – wo bist du?
Es stimmt wohl, dass dieser Branche schon länger kein neues iPhone-Äquivalent entsprungen ist und dass die Bemühungen selbst von den grossen, bekannten Spielern wie Microsoft und Apple eher belächelt werden (wer hier nutzt schon Health Vault™?).
Auch hier enthält "Requirements Engineering for Digital Health" (Fricker et al, 2015) einige interessante Beispiele. Beispielsweise zu neuen Möglichkeiten der digitalen Welt zur Verbesserung der Kommunikation zwischen Ärzten, Patienten und Umfeld des Patienten.
Denn hier liegt gerade die Herausforderung: Digital Health - die Medizinische, Pharma- und Diagnostik-Industrie sind erst am Anfang ihrer Digitalen Revolution. Wirklich innovative Ideen, Ansätze und Lösungen, die auf die Nutzer abgestimmt sind, stecken noch in den Kinderschuhen. Darum sind innovative Geister – richtig, Requirements Engineers – gefragt, die den Umständen gerecht ein gutes Gesamtprodukt zusammenbringen können.
Kommentare? Meinungen?
Disclaimer: Der CEO von SwissQ, Adrian Zwingli ist ein Co-Autor des im Artikel referenzierten Buchs.