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Conquer the Chaos – Warum Testen heute mehr ist als Technik

19 May, 2025
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Conquer the Chaos – Warum Testen heute mehr ist als Technik

Ein persönlicher Rückblick auf den Swiss Testing Day 2025
Von Bruno Plasch, Chairman of the Board, Swiss Testing Day 2025 | Principal Quality Ambassador bei Xebia Switzerland

Am 17. April 2025 durfte ich in Zürich im StageOne die Testing-Community zum Swiss Testing Day willkommen heissen – als Chairman of the Board und als jemand, der seit vielen Jahren mit Leidenschaft für Qualität arbeitet. Es war mir eine grosse Ehre, die Eröffnungsrede zu halten und gemeinsam mit Experten und Expertinnen, Partnern und Freunden zu diskutieren, wie wir mit Testen Orientierung in komplexen, digitalisierten Systemlandschaften schaffen können. Es war mir wichtig, nicht nur technische Entwicklungen anzusprechen, sondern auch den kulturellen und ethischen Kontext des Testings in einer zunehmend komplexen Welt.

Im Folgenden findet ihr meine Eröffnungsrede in voller Länge:


🏛1. Willkommen & Geschichte des Swiss Testing Day

Herzlich willkommen, liebe Testing-Community, werte Partner, liebe Boardmitglieder – ich begrüsse euch zum Swiss Testing Day 2025 hier in Zürich im StageOne.
Seit seiner Gründung im Jahr 2006 steht der Swiss Testing Day für fundiertes Fachwissen, interdisziplinäre Impulse und für die Kraft einer Community, die Qualität nicht als Selbstzweck begreift, sondern als Haltung. Über fast zwei Jahrzehnte hat sich dieser Tag zu einem der bedeutendsten Treffpunkte für Fachleute rund um Test, Qualität und Digitalisierung entwickelt.

Mein besonderer Dank gilt unseren Wegbereitern Adrian Zwingli und Silvio Moser. Mit Freude und Stolz darf ich heute Silvio, meinen Mentor und guten Kollegen, als Ehrengast auf dem Swiss Testing Day zu begrüssen. Ohne seinen visionären Blick für Testkompetenz in der Schweiz gäbe es diesen Tag nicht in dieser Form. Es ist dieser Geist eines Pioniers, Mut und Leidenschaft für Qualität, der uns bis heute inspiriert. Vielen Dank!

Unser diesjähriges Motto lautet: „Conquer the Chaos“. Was sich zunächst nach Kontrolle anhört, meint vielmehr: Orientierung schaffen inmitten von Komplexität. Strukturen sichtbar machen, wo Unsicherheit herrscht. Verantwortung übernehmen, wo Algorithmen Entscheidungen treffen. Es fordert uns auf, nicht einfach nur mit dem Wandel zu leben, sondern ihn zu verstehen – und aktiv mitzugestalten.

Testen war nie nur Technik. Es ist Vertrauen. Vertrauen, dass Systeme halten, was sie versprechen – und dass wir Menschen die Wirkung dieser Systeme begreifen. Es geht um Verlässlichkeit in einer Welt, die sich schneller verändert als je zuvor.

„Chaos is merely order waiting to be deciphered.“ – José Saramago


🌱2. Technologische Entwicklung: Vom Faustkeil zur Cloud

Schon in der Frühzeit testeten Menschen: ob Feuer brennt, ein Speer fliegt oder eine Konstruktion hält. Trial and Error war Überlebensstrategie. Heute ist Testen hochspezialisiert – doch der Kern ist derselbe: Erkenntnis durch Überprüfung. Lernen durch Scheitern. Sicherheit durch Erfahrung.

Technologische Etappen markieren unser Fortschreiten:

  • Ackerbau ermöglichte Sesshaftigkeit, aber auch die erste arbeitsteilige Fehlerkette.
  • Die Schrift speicherte Wissen – aber auch Irrtümer.
  • Die Dampfmaschine erzeugte Effizienz – und neue Risiken.

Heute erleben wir nicht nur Fortschritt, sondern vor allem Beschleunigung. Der Sprung von Taschenrechnern zu KI-Systemen, die juristische Entscheidungen beeinflussen oder Krankheiten diagnostizieren, geschah in wenigen Jahrzehnten. Und der nächste Quantensprung steht schon bevor: durch Quantencomputer, Biotechnologie und interstellare Kommunikation.

Die Systeme von morgen sind skalierbar, resilient, dynamisch. Doch sie sind nur so gut wie die Kultur, in der sie entstehen.
Cloud Native ist kein Buzzword. Es ist ein Paradigmenwechsel: Weg von monolithischen Strukturen hin zu responsiven, modularen und sich selbst regulierenden Umgebungen.
Aber Technologie allein genügt nicht. Wenn Testing kein Teil der Unternehmenskultur ist – keine Haltung, kein Gespräch, kein Miteinander – wird Qualität zur Glückssache.

Deshalb brauchen wir Führung, die zuhört. Teams, die vertrauen. Und Prozesse, die Qualität nicht einfordern, sondern ermöglichen.

Wir stehen an der Schwelle zur technischen Selbstreferenzialität: Maschinen erschaffen Maschinen, Systeme evaluieren andere Systeme – und wir sind gefordert, dieses Geschehen zu verstehen und zu gestalten.

Testen wird zum Schlüssel dafür, dass Technologie dem Menschen dient – und nicht umgekehrt. Es schafft Orientierung, wo Automatisierung Entscheidungen trifft, und verhindert, dass technischer Fortschritt zum Selbstzweck wird. Es bewahrt Menschlichkeit im digitalen Wandel.

Deshalb ist Testen eine kulturelle Kompetenz geworden. Eine, die Fragen stellt – gerade dann, wenn es niemand sonst tut. Eine, die versteht: Je schneller der Fortschritt, desto klarer muss das Warum sein.


⚙ 3. Testarchitektur & Daten: Strukturen, die tragen

Je komplexer unsere Systeme werden, desto entscheidender ist es, Architektur nicht nur als Bauplan zu begreifen, sondern als Kommunikationsmodell. Eine gute Testarchitektur ist wie ein Stadtplan: Sie zeigt Wege, Hürden, Verbindungen – und sie muss lesbar bleiben. Nur so wird sie lebendig – und nicht zum Flaschenhals im Wandel.

Wenn in Projekten die Rollen verschwimmen und Zuständigkeiten sich überlagern, wird die Testarchitektur zur Orientierung – fachlich wie menschlich. Sie gibt Stabilität in einem dynamischen Feld. Sie schafft Konsistenz in verteilten Teams, fördert Wiederverwendbarkeit, ermöglicht Governance – und verhindert, dass das Chaos am Code beginnt.

Eng verbunden ist die Frage der Testdaten. In Zeiten von DSGVO, global verteilten Teams und KI-gesteuerten Systemen reicht es nicht mehr, mit festen Datensätzen zu arbeiten. Was wir brauchen, sind Datenlandschaften, die flexibel, automatisiert und sicher zugleich sind. Sie müssen skalierbar, nachvollziehbar, anonymisiert, testbar sein – und gleichzeitig für Training, Validierung und Audits geeignet.

Die Kombination aus intelligenter Architektur und einem dynamischen Datenansatz wird zum Fundament moderner Qualitätssicherung. Sie ist mehr als Technik: Sie ist Ausdruck unserer Haltung zur Verantwortung. Wer hier investiert, gewinnt nicht nur Zeit – er gewinnt Vertrauen.


💡4. Automatisierung & Delivery: Geschwindigkeit mit Sinn

Automatisierung bedeutet mehr als schneller zu sein. Sie bedeutet, sich zu fragen, welche Aufgaben sinnvoll automatisiert werden können – und welche besser beim Menschen bleiben. Denn Geschwindigkeit ist kein Wert an sich, sondern nur dann ein Fortschritt, wenn sie von Sinnhaftigkeit begleitet wird.

Continuous Integration, Delivery, Testing – das alles verlangt nicht nur Tools, sondern Verantwortung. Denn jeder automatisierte Testfall birgt das Risiko einer unbemerkten Fehlentscheidung. Und je höher der Automatisierungsgrad, desto größer das Risiko, dass sich Fehler systematisch vervielfachen, wenn der Mensch nicht eingebunden bleibt.

Testautomation ist nicht mehr optional. Sie ist Voraussetzung, um Release-Zyklen zu verkürzen, Fehler frühzeitig zu erkennen und Qualität skalierbar zu machen. Gleichzeitig darf sie kein Selbstzweck werden: Der wahre Gewinn liegt nicht nur in der Einsparung von Zeit, sondern in der Wiederholbarkeit, der Verlässlichkeit und der Transparenz von Prozessen.

In modernen Organisationen entstehen hybride Teams: Tester:innen, DevOps-Spezialist:innen, SMEs und Business-Stakeholder arbeiten gemeinsam an Qualität. Die Automatisierung muss in diese Struktur eingebettet sein, um nachhaltig zu wirken. Sie muss orchestriert, überwacht, kontinuierlich verbessert werden – sie lebt nur, wenn sie gepflegt wird.
Gleichzeitig ist sie kein Selbstläufer: Ohne Pflege veralten Testfälle, ohne Governance verliert man Übersicht, ohne Strategie wird aus Automatisierung Chaos. Deshalb braucht es methodische Frameworks, die Automatisierung strukturieren, messbar machen und in größere Qualitätsziele einbetten.

Richtig verstanden schafft Automatisierung Raum: für exploratives Testen, kreative Ansätze und eine stärkere Nutzerorientierung. Sie ist kein Ersatz – sie ist ein Verstärker menschlicher Sorgfalt. Eine gute Automatisierung schafft nicht nur mehr Effizienz, sondern auch mehr Vertrauen. Sie erlaubt es uns, mehr Zeit dort zu investieren, wo menschliches Urteilsvermögen unersetzlich ist.


🧠 5. KI & Ethik: Der Mensch im Zentrum

Künstliche Intelligenz revolutioniert unsere Welt 2023 – aber sie bringt auch Verantwortung mit sich. Wir testen heute nicht mehr nur Funktionen, sondern Wirkungen. Nicht nur Systeme, sondern auch Konsequenzen. Wir delegieren heute Entscheidungen an Systeme, deren Verhalten wir oft nicht mehr erklären können. Wer testet dann noch? Wer haftet, wenn ein Algorithmus diskriminiert?

Die Ethik der KI erfordert neue Denkweisen: Welche Werte prägen unsere Modelle? Wer trägt Verantwortung, wenn ein Algorithmus versagt? Wie stellen wir Transparenz, Fairness und Nachvollziehbarkeit sicher? Welche Maßnahmen schützen die Würde des Einzelnen?

Wie IBM, die ETH Zürich oder die UNESCO zeigen, gibt es bereits wertvolle Initiativen – aber wir brauchen mehr: konkrete Leitlinien, ethische Prüfprozesse, aber vor allem: das Bewusstsein der Menschen, die KI entwickeln und testen.

IBM beispielsweise fordert erklärbare, faire und robuste KI. Die UNESCO hat mit 193 Mitgliedsstaaten globale Prinzipien beschlossen – darunter das Do-No-Harm-Prinzip, menschenzentrierte Kontrolle und Datenschutz. Die ETH Zürich vernetzt Akteure aus Wissenschaft, Gesellschaft und Politik in einem interdisziplinären KI-Ethik-Netzwerk.

Gleichzeitig stellen wir fest: Es gibt keine einfache Formel. Der Harvard-Philosoph Michael Sandel warnt, dass algorithmische Entscheidungen menschliche Vorurteile nicht nur reproduzieren, sondern ihnen den Anschein objektiver Wahrheit geben. Genau deshalb braucht es uns – die Tester:innen – als ethische Instanz, als Spiegel, als Mahner.

Wir tragen Verantwortung – nicht nur für Systeme, sondern für die Gesellschaft, in der diese Systeme wirken. Die Verantwortung endet nicht beim Code. Sie beginnt dort erst. Und sie betrifft uns alle – ob wir Tools bauen, Modelle trainieren oder Szenarien entwerfen.

Testen wird hier zur moralischen Disziplin. Eine, die prüft, ob Technologie mit unseren Grundwerten in Einklang steht. Eine, die auch die Schattenseiten sichtbar macht – bevor sie Schaden anrichten. Eine, die im Zweifel auch Nein sagt.

Selbst Asimovs drei Robotergesetze reichten nicht aus. Darum ergänzte er ein „Gesetz 0“: Ein Roboter darf der Menschheit keinen Schaden zufügen. Heute wissen wir, dass selbst das nicht ausreicht.

Die folgenden sechs Aspekte werden von internationalen Gremien wie UNESCO, IBM, der Europäischen Union oder der ETH Zürich als zentrale ethische Herausforderungen genannt:

  1. Bias und Diskriminierung – KI-Systeme übernehmen und verstärken potenziell menschliche Vorurteile, z. B. bei Kreditvergabe, Jobsuche oder Strafjustiz.
  2. Transparenz und Erklärbarkeit – Notwendigkeit, KI-Entscheidungen nachvollziehbar und erklärbar zu gestalten, um Vertrauen zu schaffen.
  3. Privatsphäre und Datenschutz – Nutzung großer Datenmengen wirft Fragen zur Privatsphäre und zur Kontrolle persönlicher Daten auf.
  4. Menschliche Kontrolle und Verantwortung – Forderung nach klarer menschlicher Aufsicht und Verantwortlichkeit für KI- Systeme.
  5. Regulierung und Richtlinien – Konsens, dass ethische Leitlinien und staatliche Regulierungen wichtig sind, um negative Folgen zu verhindern.
  6. Gemeinsame Verantwortung – Ethik ist nicht nur Aufgabe von Unternehmen oder Regierungen, sondern braucht Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Gesellschaft.

Diese Prinzipien sind kein Regelwerk, das man abhaken kann. Sie sind Haltung. Und genau das macht sie testbar – nicht über Tools, sondern über Kultur.

Denn: Qualität ohne Ethik ist Effizienz ohne Sinn.

Das bedeutet auch: Wir müssen unsere ethischen Prüfverfahren selbst reflektieren. Eine diverse Perspektive einnehmen. Die Auswirkungen unserer Tests auf Umwelt, Gesellschaft und künftige Generationen bedenken. Kurz: Qualität bedeutet nicht nur „funktioniert“, sondern auch „verantwortbar“.

Bruno Plasch
Bruno Plasch, Principal Quality Ambassador at Xebia Switzerland and Chairman of the Board for Swiss Testing Days, is an experienced senior expert in software quality assurance and test management. With his extensive experience in leading and optimizing complex testing processes and organizations, he has made significant contributions to product quality across various industries, including fintech, banking, and retail.
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