Kaum ein Mensch kann sich heutzutage ein Leben ohne mobile Geräte vorstellen. Ob iPhone, iPad, Nexus oder Galaxy – Smartphons und Tablets begleiten und unterstützen uns täglich im Beruf und privat. Auch für Menschen mit Behinderung sind mobile Geräte unverzichtbar und kaum aus dem Alltag wegzudenken. Laut dem Bundesamt für Statistik gibt es in der Schweiz mehr als 1.5 Millionen Menschen mit Behinderungen in allen Altersgruppen. Wenn eine Applikation oder Webseite auch für diese Benutzer zugänglich ist, erweitert das den Kundenkreis erheblich und sorgt für Inklusion und Gleichberechtigung.
In meinem aktuellen Mandat, bin ich als Requirements Engineer tätig und habe für die Barrierefreiheit des Online-Auftritts und der mobilen Applikation gesorgt. In diesem Blog möchte ich über meine Erfahrungen in der Konzeption und dem Testing von barrierefreien Webseiten und mobilen Apps berichten.
Wie funktioniert Barrierefreiheit genau?
Die Betriebssysteme und Browser der mobilen Geräte bieten zahlreiche Funktionen für Benutzer mit verschiedenen Arten von Behinderungen. Apple hat seinen Special Event im letzten Jahr mit einem Video über die Barrierefreiheit der Produkte begonnen. Als erster Hersteller von Screenreadern für Touchscreens, ist Apple beim Thema Barrierefreiheit sehr fortschrittlich und erfolgreich unterwegs. Die anderen Hersteller haben in der Zwischenzeit in diesem Bereich nachgezogen. Am Beispiel der neuen Features von IOS 10 zeige ich auf, welche Arten von Behinderungen man bei der Konzeption bedenken muss und wie man diese Features nutzen kann.
Voicemail-Transkript
In iOS10 ist es möglich, sich ein Voicemail- Transkript anzeigen zu lassen – das ist besonders für Benutzer mit Gehörlosigkeit nützlich. Zusammen mit der bestehenden Funktion für die automatischen Anzeige von Untertiteln bei Audio- und Videodateien bietet das Betriebssystem so eine gute Unterstützung für gehörlose Benutzer. Leider funktioniert das aktuell nur auf den neusten Geräten ab iPhone SE und nur mit US Englisch.
Vergrösserungsglas und Farbfilter
Für Benutzer mit geringem Sehvermögen, bietet das Vergrösserungsglas, welches auf der Kamera-Funktion basiert, eine gute Unterstützung im Alltag. Benutzer mit Farbblindheit oder ähnlichen Sehschwächen haben mit dem Farbfilter die Möglichkeit, Farben umzukehren und die Information so benutzergerecht darzustellen.
Voiceover-Screenreader
Blinde Benutzer bedienen das Gerät mittels Screenreader – im Fall von iPhone VoiceOver. In diesem Artikel von 2009 berichtet ein blinder Benutzer, wie er im Apple Store zum ersten Mal ein Gerät mit Touchscreen dank dem Screenreader benutzen konnte. Die Eingabe erfolgt entweder per Spracherkennung oder per Touchscreen-Tastatur durch die Auswahl der Taste mit speziellen Gesten. Unter iOS10 gibt es neue angenehme Stimmen von VoiceOver und der Benutzer kann die Aussprache einzelner Wörter und Sätze besser bestimmen (z.B. Namen und geographische Orte).
SiriKit und Typing Feedback
Bisher gab es keine Möglichkeit, Drittparteien- Applikationen mit Siri zu steuern. Mit iOS10 steht den Entwicklern SiriKit zur Verfügung und selbst entwickelte Applikationen können ebenfalls mit der Stimme bedient werden. Für sehbehinderte Benutzer und Benutzer mit motorischen Beeinträchtigungen, bietet das eine grosse Unterstützung.
Für Benutzer mit Dyslexie oder Leseschwierigkeiten besteht die Möglichkeit, die textuellen Eingaben und Vorschläge von QuickType mit Typing feedback vorzulesen.
Key findings aus dem Projekt
Je nach Art der Applikation oder Webseite muss der eine oder andere Aspekt der Barrierefreiheit berücksichtigt werden. Generell kann ich aus meiner Erfahrung im Projekt folgende Tipps geben:
Früh genug
im Projekt mit dem Thema Barrierefreiheit auseinandersetzen. Je früher die Entscheidung nach dem Ausmass der Barrierefreiheit, welche die Applikation bieten soll, fällt, desto effizienter kann man die Vorhaben umsetzen und in die Barrierefreiheit in die konzeptionelle Entscheidungen miteinbeziehen. Als Messlate für den Ausmass der Barrierefreiheit können die Konformitätsstufen nach WCAG Standard dienen.
Native Funktionalitäten
des Betriebssystems verwenden. Wie ich im vorherigen Abschnitt erwähnt habe, verfügt jedes Betriebssystem über viele Standardfunktionen. Damit ist es möglich, mit wenig Aufwand eine gute Barrierefreiheit zu erreichen. Zum Beispiel ist es für Benutzer mit geringem Sehvermögen sehr hilfreich, wenn in Applikationen die Schriftgrösse, je nach Einstellung in der Bedienungshilfe, angepasst wird. Für mobile Webseiten kann man sicherstellen, dass die Standard-Zoom-Funktion des Browsers für diese Zwecke unterstützt wird.
Weniger Eingaben
Jede Eingabe ist für den Benutzer mit Behinderung mit zusätzlichem Aufwand verbunden. Gerade auf mobilen Geräten ist das Ausfüllen der Eingabefelder für unerfahrene Benutzer problematisch und muss entweder durch Spracherkennung oder aufwendiges Suchen der benötigten Tasten auf der Tastatur erfolgen. Die Eingabedaten sollen womöglich gespeichert oder vorausgefüllt werden.
Grosse Targets und genug Abstand
Wie bereits erwähnt, können Benutzer mit Sehbehinderung die Applikationen per Touchscreen bedienen. Die Touch-Targets müssen dafür aber gross genug sein, um die Navigation zu erleichtern. Man sollte genug Abstand zwischen Elementen lassen, um die zufällige Betätigung und eine lange Suche zu vermeiden. Die kleine Bildschirmgrösse der mobilen Geräte muss ebenfalls berücksichtigt werden. Dies macht es nicht immer leicht, das benötigte Element zu positionieren und einen Kompromiss zwischen Design und Benutzbarkeit zu gewährleisten. Nach Möglichkeit soll die Applikation sowohl Portrait als auch Landscape Mode unterstützen, da im Landscape Mode die Tastatur und die Touch Targets generell grösser sind und leichter betätigt werden können.
Kontrast
Für Personen mit Farbblindheit ist es wichtig, dass es einen genügend grossen Kontrast zwischen den Farben gibt, damit der Unterschied zwischen den Elementen auch mit einem Farbfilter oder bei Farbumkehrung erkenntlich ist.
Navigation
der Requirements Engineer muss dafür sorgen, dass die Navigation konsistent, logisch und einfach zu benutzen ist. Die Links sollen mit möglichst deskriptiven Labels versehen sein. Besonders bei Links mit graphischen Icons (z.B. RSS Feed) müssen Labels für den Screenreader vorhanden sein, damit die Benutzer sich orientieren können. Navigationselemente, die man auf- und zu klappen kann, müssen mit dem entsprechenden Statuslabel versehen werden, damit der Screenreader den Status erkennen kann. Die Reihenfolge der Elemente, wie sie vom Screenreadern vorgelesen wird, sollten dem Benutzer einen Aufschluss dafür geben, in welchem Kontext man sich gerade befindet.
Fazit
Für mich war die Erfahrung der Anforderungsermittlung im Bereich Barrierefreiheit sehr lehrreich und wertvoll. Die wichtigsten Erkenntnisse habe ich beim Testing durch das Hineinversetzen in die Rolle des Benutzers gewonnen. So habe ich zum Beispiel bei geschlossenen Augen mit dem Screenreader auf der Seite navigiert.
Ich habe mit geschlossenen Augen mit dem Screenreader navigiert.
Da alle nötigen Funktionen (z.B. VoiceOver) bereits im Betriebssystem vorhanden sind, braucht man dafür keine zusätzlichen Geräte oder Software. Nach einer kurzen Einarbeitungszeit, kann man die entsprechenden Features bedienen und die wichtigsten Elemente der Applikation auf die Bedienbarkeit und Benutzbarkeit prüfen. Falls eine Zertifizierung der Applikation angestrebt wird, ist es empfehlenswert, ein Pre-Zertifizierungs-Audit von der Zertifizierungsstelle durchführen zu lassen. Dieser Bericht bietet einen sehr guten Einstieg und eine Grundlage für Verbesserungsmassnahmen. Auch wenn die Zertifizierung nicht angestrebt wird, ist so bei guter Planung möglich, mit relativ wenig Aufwand eine gute Benutzbarkeit für möglichst viele Personengruppen zu erreichen.
Im Endeffekt ist in jedem Projekt, abgesehen von gesetzlichen Bestimmungen, individuell zu entscheiden, wie viel Barrierefreiheit nötig ist. Je nach der Art und den geltenden Bestimmung der mobilen Lösung, können verschiedene Aspekte der Barrierefreiheit eine Rolle spielen. Falls man die Barrierefreiheit im Projekt generell nicht berücksichtigt, besteht die Gefahr, dass bestimme Benutzergruppen von Anfang an ausgeschlossen werden und als Kunden verloren werden. Die Aufgabe des Requirement Engineers ist es, sich mit den aktuellen Trends im Bereich Barrierefreiheit auf dem Laufenden zu halten, um den Kunden eine optimale Lösung mit guter Barrierefreiheit anbieten zu können. Es lohnt sich auf jeden Fall, sich auf dem Laufenden zu halten, um bei Bedarf diese Möglichkeiten bei der Konzeption zu berücksichtigen.