Sie sind überall, manche offensichtlich, andere unbemerkt – körperliche Einschränkungen* . Seien sie temporär, wie z. B. nach einem Unfall oder permanent. Facilitatoren stellt sich nicht die Frage, «ob» sie jemals damit konfrontiert werden, sondern «wann». Lies weiter, um zu erfahren, wie du diese Herausforderung meistern, Betroffene zu Beteiligten machen und das gesamte Team integrieren kannst.
Sailboat-Retro, Mindmapping, Silent Brainstorming, ROTI-Checkout… bewährte Werkzeuge im Toolset eines Facilitators (Mehr Tools? Schau dir die Agile Facilitation Toolbox an).
Allerdings wurden diese und vergleichbare Methoden für Teams ohne Mitglieder mit einer körperlichen Einschränkung entwickelt.
Nimm dir kurz einen Moment Zeit und überlege dir, wie sich eine dieser Methoden anfühlt, mit eingeschränktem Hören, Sehen oder eingeschränkter Motorik. Was würde funktionieren, was nicht?
Aus Hochrechnungen des Bundesamtes für Statistik geht klar hervor, dass rund 20% der Bevölkerung von irgendeiner Art Behinderung betroffen sind. Grund genug, um sich als Facilitator damit auseinanderzusetzen, wie diese Teammitglieder am besten abgeholt werden und auf ihre und die Bedürfnisse des Teams eingegangen werden kann.
In diesem Beitrag stelle ich dir 5 Ideen vor, mit denen du als Facilitator diese Herausforderung meistern kannst. Die oberste Maxime soll sein, Chancengleichheit unter den Teammitgliedern herzustellen. Diese Ideen sind unabhängig davon anwendbar, welcher Art die Einschränkung ist. Denn nebst der Einschränkung eines Menschen ist er in erster Linie das: ein Mensch. Und jeder Mensch ist ein Individuum mit einer eigenen Vorgeschichte, mit Wünschen, Bedürfnissen und Vorlieben. Es ist also nicht nur unmöglich, sondern mitunter sogar gefährlich, Menschen nur anhand eines einzigen Merkmals in den gleichen Topf zu werfen, im Glauben, ihnen etwas Gutes zu tun.
1. Proaktiv das Gespräch suchen
Es klingt so einfach und offensichtlich, dass man zuerst das Gespräch mit den Betroffenen suchen soll. Und doch ist es die Massnahme, die in meiner Praxiserfahrung am häufigsten zur positiven Überraschung geführt hat. Häufig war schon der explizite Wille, eine gemeinsame Lösung zu finden und das Interesse an dem Erleben der Person sehr wertvoll.
- Gehe direkt und frühzeitig auf die entsprechende Person zu und biete ihnen das Gespräch an – am besten unter 4 Augen.
- Zeige Interesse an der Erlebenswelt und erarbeite gemeinsame Lösungen. Dabei soll der Fokus klar auf der gemeinsamen Arbeit liegen und nicht auf der Beeinträchtigung!
- Nimm den Menschen mit Beeinträchtigung als Experten in dieser Sache wahr. Er weiss am besten, was für ihn funktioniert und was nicht.
- Frage nach, was OK ist im Team zu besprechen und was nicht.
- Arbeite iterativ – probiert Massnahmen aus und adaptiert sie bei Bedarf.
- Frage nach evt. schon vorhandenen (technischen) Hilfsmitteln.
Meiner Erfahrung nach ersetzt nichts das persönliche Gespräch. Ich konnte damit z.B. mit einem Kollegen mit fast vollständiger Erblindung innert kürzester Zeit sowohl tatsächlich hilfreiche Massnahmen definieren (Post-it-Zettel für ihn an das Flipchart kleben) und nutzlose Massnahmen eliminieren (ungefragt durch den Raum führen).
2. Das Team einbeziehen
Die meisten Menschen sind grundsätzlich hilfsbereit, fühlen sich manchmal aber selbst hilflos und überfordert, wenn sie nicht wissen, wie sie helfen sollen. Es ist darum eine gute Idee, das Team nicht nur einzubeziehen, sondern auch zu klären, wie jeder Einzelne unterstützend wirken kann (und was nicht willkommen ist). Das Team ist aber auch selbst betroffen von den Massnahmen. Der Facilitator hat verschiedene Möglichkeiten:
- Ansprechen, welche Änderungen es in der Zusammenarbeit gibt, wie geholfen werden kann und was nicht hilfreich ist.
- Festigen, dass es darum geht, die Zusammenarbeit für alle zu verbessern.
- Im Team etablieren, dass es jederzeit OK ist, auch seine Bedürfnisse zu äussern gegenüber dem Facilitator.
- Unterstützung auch anderen Teammitgliedern anbieten. Dies ist besonders dann hilfreich, wenn sich die von einer Einschränkung betroffene Person unwohl dabei fühlt, die eigenen Bedürfnisse zu äussern.
- Das Team in die iterative Lösungsfindung einbeziehen. Der Facilitator braucht hier ein gutes Gespür dafür, wie sich die gefundenen Massnahmen auf das gesamte Team auswirken. Dabei hilft es, die Beobachtungen wertfrei mit dem Team zu teilen.
Erfahrungsgemäss sind viele der Massnahmen – nach einer gewissen Eingewöhnungszeit – für das gesamte Team nützlich. So konnte ich bspw. beobachten, dass die Diskussionen konstruktiver und fokussierter wurden mit einem gehörlosen Teammitglied. Die getroffene Massnahme war, dass nur einer auf einmal spricht und es einen visuellen Indikator (Ball) gibt, wer gerade am Sprechen ist. Dies half dabei, Wiederholungen, störende Zwischenbemerkungen etc. zu reduzieren.
3. Zeit geben
Zeit ist ein nicht zu unterschätzender Faktor, vor allem in Meetings. Timeboxing ist das Zauberwort, dass wir Facilitatoren (spätestens seit der agilen Revolution) ständig predigen. Timeboxen sollen helfen zu fokussieren. Dabei ist es aber unabdingbar, dass die Aufgabe auch in der gewählten Zeit bewältigt werden kann. Ansonsten besteht die Gefahr, dass der Prozess statt des Inhaltes im Vordergrund steht. Dies gilt natürlich nicht nur für Menschen mit Beeinträchtigungen.
- Gib Ort, Agenda, Übungen und das Ziel bereits vor dem Meeting bekannt.
- Besprich den Prozess der Übung und frage den Menschen mit Beeinträchtigung nach möglichen Stolpersteinen. Denke dabei auch an die zu verwendenden Materialien, Geräte und Utensilien.
- Texte, Grafiken etc., die nicht während des Meetings erarbeitet werden, können auch schon im vornhinein geteilt werden.
- Rituale können hilfreich sein, indem sie Meetings strukturieren und den Ablauf erwartbar machen.
- Bedenke bei Raumwechseln bzw. Bewegung im Raum, wie viel Zeit dafür benötigt wird.
In einem Team mit einem sehbehinderten Teammitglied teilte ich schon vor dem Meeting jeweils die online Whiteboards mit den Übungen und schrieb zu jedem eine kurze Anleitung, was es zu tun gibt. Dies half, sich im Meeting auf den Inhalt zu konzentrieren und auf den Boards zu orientieren.
4. Unterstützungsmassnahmen
Nebst den Massnahmen, welche sich eher auf die Metaebene beziehen und allgemein gültig sind, ist es sinnvoll, sich auch mit Ideen auseinanderzusetzen, welche ganz konkret bei der spezifischen Art der Beeinträchtigung hilfreich sein können. Wichtig ist, dass diese Massnahmen stets in Absprache mit dem Menschen mit Beeinträchtigung getroffen werden sollten.
In der unten stehenden Tabelle finden sich dazu einige Beispiele.
Art | Beispiele | Schwierigkeiten | Unterstützung |
Sehen | Blindheit, Tunnelblick, Star, Augenentzündung, Sehschwächen | (rein) visuelle Informationen aufnehmen, Kontrast/Farbe/Gesichtsfeld, Schreiben, Bewegung im Raum, nonverbale Signale | Unterstützung beim Schreiben remote/digital/Video (kann beliebig vergrössert werden)Grösse/Kontrast anpassenScreenreader u.ä. erlauben |
Gehör | Schwerhörigkeit mit/ohne Lippenlesen, altersbedingte Schwerhörigkeit, Tinnitus | (rein) akustische Informationen aufnehmen, auseinanderhalten/zuordnen von Tönen, Sprechen, an Diskussionen teilnehmen | Diskussionen im KreisDirekt zur Person sprechenMitschreiben/Aufgaben schriftlich ergänzenSprache evtl. anpassen (Dialekt meiden) |
Grobmotorik | Bruch, Rückenbeschwerden, positionsbedingte Beschwerden | Bewegung im Raum, Einnahme von bestimmten Positionen | Übungen vermeiden/anpassenMehr/weniger Bewegung |
Feinmotorik | Schlaganfall, Rheuma, Parkinson, Sehnenscheidenentzündung | Sprechen/Schreiben, Utensilien bedienen, Tempo | Paraphrasieren zur Klärung des GeschriebenenTempo anpassen |
Mobilität | Paraplegie, Krücken, Rheumatische Beschwerden | Erreichbarkeit von Räumlichkeiten, Bewegung im Raum, Utensilien bedienen | Raum erreichbar gestaltenHindernisse aus dem WegRaumwechselzeit verlängern |
Mehr Infos und Ideen: Beeinträchtigungsspezifische Informationen
Gerade bei Einschränkungen des Sehens oder des Hörens hat es sich bewährt, Informationen stets auf mehreren Kanälen zu präsentieren. Bspw. kann statt eines einfachen Nickens auch eine verbale Zustimmung gemacht werden.
Ebenfalls hilfreich ist es, sich mit Hilfsangeboten wie z. B. zur Verfügung gestellten Zeichensprachendolmetschern oder auch technischen Hilfsmitteln vertraut zu machen.
Eine sehbehinderte Person in einem meiner Teams konnte beispielsweise mittels einer hochauflösenden Kamera, die auf die Flipcharts gerichtet wurde, und einer Bildschirmlupe die Post-its der anderen Teammitglieder lesen (deutliches Schreiben und kontrastreiche Stifte haben sich hier ebenfalls bewährt).
5. Fairness heisst Chancengleichheit
Fairness heisst nicht, dass jeder die gleiche Art der Unterstützung, sondern dass jeder die gleichen Chancen zur Partizipation erhält. Dies kann für unterschiedliche Menschen unterschiedliche Arten der Unterstützung bedeuten.
In der Praxis ist es leider oft so, dass nur die Unterstützungsleistung und nicht die daraus resultierende Chancengleichheit betrachtet wird. Hier ist es am Facilitator dies explizit zur Sprache zu bringen. Es ist dabei zum Beispiel nützlich, das Ziel vorzustellen und ausgehend von diesem Ziel allfällig nötige Unterstützung anzubieten. Dabei ist besonders zu beachten, dass erbrachte Unterstützungsleistung und Wertschätzung nicht miteinander vermischt werden. Falls dies nicht zielführend ist, kann die Frage gestellt werden, ob und wie die Unterstützung der einen Person die andere Person benachteiligt oder stört.
Zusammengefasst führt nichts an einer sensiblen, offenen Kommunikation, Transparenz und einem Fairness-Mindset vorbei. Der Facilitator kann dabei massgeblich dazu beitragen, die Kultur und das Mindset zu ändern, statt unbedacht Massnahmen einzuführen.
Hast du weitere Fragen zum Thema Facilitation? Dann schau dir unsere Agile Facilitation Toolbox an, buche einen Agile Team Facilitation Kurs oder kontaktiere mich direkt!
*Disclaimer: Ich habe mich bewusst entschieden, in diesem Blogbeitrag lediglich über körperliche Einschränkungen zu schreiben. Zum einen, da ich in diesem Bereich schon eigene Praxiserfahrung sammeln durfte, zum anderen, da das Feld der psychischen Einschränkungen (oder auch Neurodivergenz) noch viel grösser ist und ich dem in der Länge eines derartigen Beitrags nicht gerecht werden könnte. Dennoch bin ich der Überzeugung, dass viele der genannten Ideen ebenso in diesem Kontext angewendet werden können.