Auch dieses Jahr standen der Agile Leadership Day & Business Agility Day in meiner Agenda. Und wie immer stellte ich mir anschliessend die Frage: «Hat es sich gelohnt oder hätte ich meine Zeit besser investieren können?» Den Networking-Aspekt klammere ich hier mal aus. Aber fachlich? Was bleibt? Was sehe ich nun anders? Und vor allem: Was mache ich ab morgen anders? Einige Erkenntnisse meiner Reflexion möchte ich hier teilen. Es ist eine Mischung aus Impulsen der Referenten verknüpft mit etwas Theorie sowie konkreten Tipps aus meinem Erfahrungsschatz. Gezwungenermassen subjektiv, eingegrenzt auf die Keynotes von Alex Osterwalder, John Kotter und Wolfgang Jenewein und im Bewusstsein, dass mein gerade dominanter, persönlicher Kontext meine Wahrnehmung beeinflusst.
Out? Die Organisation als Maschine.
Die drei Key Notes standen zunächst jede für sich. Doch je länger der Tag dauerte, desto klarer erschien vor meinem Auge ein roter Faden, der sie miteinander verband. Unabgesprochen (wie ich annehme), zeigten Osterwalder und Jenewein zu Beginn und zum Ende des Tages gar dieselbe Grafik zum Unterschied zwischen kontinuierlicher Weiterentwicklung und disruptiver Innovation. Und auch Kotter betonte das Spannungsfeld zwischen der traditionellen Organisation mit Fokus auf Stabilität, Zuverlässigkeit und Effizienz und der immer höheren Rate der Veränderungen in unserer Umwelt. Er stellte die These in den Raum, dass sich die Schere zwischen der Geschwindigkeit der externen Veränderungen und der unternehmensinternen Fähigkeit, diesen zu folgen, immer weiter öffnet.
Alle Referenten stellten in den Raum oder erwähnten explizit, dass das bisher verbreitete Modell der «Organisation als Maschine» für die Zukunft nicht mehr genügt. Das Modell ist verknüpft mit der Massenfertigung, welche zahlreiche moderne Errungenschaften ermöglicht hat: günstige Produkte in stabiler Qualität, Wohlstand für einen breiten, stabilen Mark, hohes Wachstum.
Das Modell der Maschine wird häufig gedankenlos übertragen auf Organisationen in der Annahme, auch diese liessen sich deterministisch planen, steuern und verändern. Grosse Change-Programme werden heute weiterhin entworfen wie ein Bauplan für eine Maschine (die Organisation). Mit Meilensteinen, Massnahmen, Resultaten und Wirkungen und der Idee, der fixe Plan liesse sich dann einfach über zwei bis drei Jahre abarbeiten. Das Resultat kennen wir: Die Organisationen und ihre Menschen sowie Kunden und Mitbewerber reagieren häufig nicht wie angenommen, es entsteht Widerstand oder eine ungeplante positive Dynamik. Dann funktioniert der Plan schon nach Kurzem nicht mehr. Ihn anzupassen würde als Eingeständnis von Fehlern interpretiert. Also wird er durchgezogen oder still beerdigt.
In? Die Organisation als lebendes System.
Wenn das Modell der Maschine für Organisationen, Teams und Menschen offenbar ausgedient hat, was dann? Alle Referenten gingen implizit vom Modell des lebenden Systems aus. Zu lebenden Systemen zählen alle Organismen, Pflanzen und Tiere, von Einzellern bis zu den Menschen. Aber auch Familien, Teams, Organisationen und ganze Staaten, ja unsere Erde und das Universum. Solche Systeme haben einige interessante Eigenschaften[1], u.a.:
- Jedes System hat eine Systemgrenze, welche den Austausch von Materie in beide Richtungen ermöglicht.
- Jedes System bildet im Inneren eigene Strukturen und reagiert auf Reize von aussen mit internen Strukturveränderungen laufenden Erneuerung oder Weiterentwicklung. So lernt es! Dies führt zu verändertem Verhalten gegen aussen und wirkt so auf die Umgebung zurück. Sehr wichtig: Der Entscheid über die interne Veränderung liegt ausschliesslich beim System.
- Jedes System verhält sich gemäss der Chaos-Theorie als sog. «Dissipative Struktur». Zur derer Dynamik gehört insbesondere das spontane Entstehen einer neuen Ordnung an kritischen Punkten der Instabilität, heute oft als «Emergenz» bezeichnet. Die Emergenz als Basis von Entwicklung und Lernen ist auch ein Hauptmerkmal der dynamischen Selbstorganisation, der Evolution und des Lebens überhaupt. Mit anderen Worten, Kreativität - die Erzeugung neuer Formen von Ordnung - ist eine Schlüsseleigenschaft aller lebenden Systeme.
Was können wir daraus ableiten für unseren Umgang mit Veränderungen? Menschen oder Organisationen, verstanden als lebende Systeme, lassen sich von aussen nicht steuern, sondern nur stören! Sie entscheiden immer selbst – bewusst oder unbewusst – wie sie darauf reagieren. Die Reaktion der zu Verändernden (Menschen, Teams, Organisationen) ist also grundsätzlich nicht vorhersehbar, manchmal allenfalls abschätzbar, häufig überraschend. Dies erklärt, weshalb durchgeplante Change Programme eigentlich nicht funktionieren können. Ausserdem: Wenn Systeme immer selbst entscheiden, wie sie reagieren, dann werden sie sich vorbehalten, auf unerwünschte Störungen von aussen, z.B. durch ein Change Programm, gegebenenfalls einfach mit «Dienst nach Vorschrift» zu reagieren, Einsatz, Leidenschaft, Produktivität und positive Veränderung bleiben aus. Ausser man hatte die unehrliche Absicht die natürliche Fluktuation erhöhen.
Wie von John Kotter mehrfach betont und von der Theorie der lebenden Systeme bestätigt, täuscht unser Eindruck von ständig zunehmender Veränderungsgeschwindigkeit und Komplexität nicht. Ändern können wir diese Dinge nicht. Wie aber können wir besser damit umgehen? Was nehmen wir mit für unseren Alltag, was machen wir morgen früh anders? Das alte effizienz-zentrierte Modell über Bord werfen und nun dem Neuen huldigen? Einen Kompromiss suchen?
In? Das Beste beider Welten integrieren.
Der rote Faden aller Referenten war ein integrativer Ansatz – das Bisherige wertschätzen, weiter pflegen wo sinnvoll und das Neue gleichwertig daneben entwickeln. Erfolgsfaktoren dazu sind
- Die beiden Welten NICHT gegeneinander auszuspielen. Es geht nicht um schlechter oder besser, sondern um ANDERS. Beide können nicht auseinanderdividiert werden. Sie sind untrennbare Seiten derselben Medaille. Gleichwertig, aber mit bewusst anderen Regeln, weil anderen Zielen. Nicht «entweder oder» sondern «sowohl als auch». In den Worten Kotters heisst das «Management mit Leadership ergänzen».
- Eine klare Unterscheidung der grundlegenden Ziele und Ansätze und bewusste Entscheide in der Umsetzung: das eine für die Gegenwart, das andere für die Zukunft (Osterwalder). Für die Massenfertigung (Geld verdienen in der Gegenwart) zählen Effizienz und stetige kleine Optimierungen, gutes Management knapper Ressourcen, Vorhersehbarkeit und Zuverlässigkeit. Für die Innovation (um auch zukünftig Geld zu verdienen), dagegen zählen Flexibilität und Kreativität für disruptive Produkte und Business-Modelle, Dinge entstehen zu lassen und Zeit zu haben für zahlreiche Experimente, um neue Zusammenhänge zu entdecken und sich überraschen zu lassen. Oder sich von anderen Domänen inspirieren zu lassen. Mit anderen Worten: In der Innovation gilt «Der Zweck ist wichtiger als Prozess» und «Effizienz ist nie Selbstzweck» (Kotter). Osterwalder referenzierte auf das Beispiel Bosch, wo in einem Bereich mehr als 200 Projekte mit je ca. CHF 100'000 identifiziert und angestossen wurden. Daraus wurden gerade mal 19 komplett umgesetzt. Das Muster: viele Ideen prüfen, rasch lernen und mutig entscheiden.
- Genügend Zeit und Geld für das Neue bereitzustellen: im Minimum 20 % für das Neue und auf Geschäftsleitungsebene und in der Firma dem Neuen denselben Stellenwert geben, z. B. durch einen Innovationsverantwortlichen in der Geschäftsleitung, der sich mit seinen Leuten auf nichts anderes als den Teil «Explore» fokussieren kann. (Osterwalder).
- In der Unternehmenssteuerung: von Projekten hin zu Produkten & Services. Erstere repräsentieren das Paradigma «Aussergewöhnliche, zeitlich begrenzte Veränderung in einem stabilen System». Letztere orientiert sich längerfristig an der Gestaltung der Kundenbeziehung über die Lösung seiner Probleme. Daraus ergibt sich ein Lebenszyklus: Ein Kundenproblem (und unsere Lösung hierfür) entsteht, verändert sich und verschwindet wieder. Hierbei gibt es Phasen mit mehr oder weniger Veränderung (des Produktes oder Services). Wir steuern über unsere Ambition, was der Service z. B. pro Jahr kosten darf und wie viel wir daran verändern möchten oder müssen, nicht mehr über Projekte als Ausnahmen.
10 Tipps für Lean Change im Alltag
Die Methoden für das Optimieren der alten Welt kennen wir alle in- und auswendig. Was aber hilft uns, die neue Welt zu meistern? Wie können wir nun unsere Organisationen besser für den Umgang mit Veränderungen rüsten? Nachfolgend zehn konkrete Ideen und Tools für den Alltag.
Neugierig bleiben
- Arbeite aktiv am Thema Wahrnehmung, auch im Betrieb, nicht nur im privaten Mindfulness-Kurs. In einer Sitzung zur Situationsanalyse zuerst nur nach Fakten, Beobachtungen und Daten fragen (braucht viel Disziplin!). Erst im zweiten Schritt Urteile und Wertungen zulassen. Nach «Was hat sich verändert?», «Was hast du beobachtet?» oder «Woran (Fakten, Beobachtung) machst du dies fest?», fragen. Also: «Was ist anders?», anstatt immer gleich «Was oder wie ist (es) besser, schlechter, günstiger?» (Jenewein).
- Noch etwas progressiver: Die Ruhe wirken lassen. Wie das geht? Zum Beispiel die Sitzungsteilnehmer zu Beginn in «Einer Minute der Stille» ankommen lassen (Smartphone verboten). Erst dann mit der Agenda starten. Erwarte nicht, dass alle diesen Einstieg gut finden werden. Eine weitere Idee für einen Problemworkshop oder eine Fallbesprechung: Nach der Schilderung der Problemstellung alle Zuhörer bitten, während fünf Minuten still zu sein und in sich hineinzuhören, welche Bilder, Gefühle, Geschichten, Töne etc. in ihnen aufsteigen. Diese teilen alle Teilnehmenden anschliessend reihum in kurzen Statements mit der Gruppe, wobei Beiträge dazu führen können, in weiteren Runden den eigenen Beitrag weiterzuentwickeln, zusätzliche Erkenntnisse einzubringen (10...15 Min.). Erst anschliessend wird über die fachliche Lösung im Sinne der gemeinsamen, kollegialen Beratung gesprochen. Lass dich überraschen von der Macht der Stille – in ihr zeigen sich emergente Lösungen.
Kleine Schritte
- MVP-Denken (Minimal Viable Product) fördern: frage immer wieder «Wie könnten wir diese Annahme, diese Idee, diese Technologie möglichst günstig prüfen? In einigen Wochen oder Monaten, nicht Jahren.» Ich bin immer wieder überrascht, wie häufig ich diese Frage an gewissen Orten stellen muss, bis plötzlich die Ideen zu sprudeln beginnen. Es braucht zunächst Mut, sich zu äussern und eine bewusst nicht-perfekte erste Lösung vorzuschlagen. Ausserdem fehlen meist schlicht die Übung sowie das positive, emotionale Erlebnis damit. Noch eine Idee: erstelle eine Broschüre deines neuen Produkts teste sie mit möglichen Kunden (Osterwalder). Schon das Gestalten wird dem Team erfahrungsgemäss ganz neue Horizonte erschliessen.
- Erfolge und Misserfolge feiern: Fortschritte, Erfolge, Lernerlebnisse, Fehler und Pannen sichtbar machen, ohne Finger-Pointing zu betreiben. Dies fördert Authentizität, gegenseitiges Vertrauen und den Mut, bei Bedarf nach Hilfe zu fragen, alles Ingredienzen der psychologischen Sicherheit. Wie umsetzen? Setze dies regelmässig im Team auf die Agenda, dazu braucht es nicht mal formale Reviews oder Retrospektiven. Weitere Ideen: mache eine Fuck-up Night oder die Blumen-Übung: Jede(r) darf einem Teammitglied einen (virtuellen) Blumenstrauss überreichen für eine kürzlich gemachte gute Tat oder eine besondere Eigenschaft. Oder versuche es mit Kudo-Karten (Management 3.0).
Geschwindigkeit erhöhen
- Frage dich als Führungskraft regelmässig, wie du den Handlungsspielraum deines Teams vergrössern und die Selbstorganisation fördern kannst: «Welche Entscheidung könnte ich noch (mehr) ins Team delegieren?» oder «Wo könnten wir einige wenige, klare Leitplanken vereinbaren?». Immer wieder tolle Erfahrungen mache ich mit «Delegation Poker» (Management 3.0). Und einer sichtbaren Liste der vereinbarten Teamregeln, inkl. Regeln mit «der Führung», wer immer dazu zählt. Und plötzlich hat die Führung mehr Zeit für Wesentliches.
- Die nächste Stufe zünden: Führung als Dienstleistung definieren. Wie wäre es, als Führungsteam das eigene Agile Manifesto zu definieren? Welche Leistungen und Umgebung brauchen deine Teams, um das Kundenproblem (intern oder extern) optimal zu lösen? Frage als Führungskraft deine Teams regelmässig danach, was sie bräuchten, um noch besser zu performen und unternehme alles, um die Hindernisse dann auch aus dem Weg zu räumen. Hierzu ein schönes Beispiel im Video von Simon Sinek.
Ressourcen und Opportunitäten nutzen
- Probleme zu lösen ist eine edle Aufgabe. Jedoch: Wie wäre es, sich einmal auf die eigenen Ressourcen und sich bietende Opportunitäten zu konzentrieren (Kotter/Jenewein) statt auf Probleme und Defizite? Das halb-volle Glas zu sehen. Als Scrum Master stelle ich immer wieder mal die Frage nach Opportunitäten statt Hindernissen. Praktisch umgesetzt: statt eine Liste von Risiken mit Eintretenswahrscheinlichkeit und Wirkung aufzustellen, dasselbe mit Opportunitäten tun. Oder eine «Futurespective» mit Blick in die Zukunft gestalten.
- Als Katalysator in vertrackten Situationen bewährt sich immer wieder die Frage: «Was wäre, wenn wir 10 Mal mutiger wären?». Dies ist eine «Powerful Question». Davon gibt es ganz viele. Sie sind ein mächtiges Hilfsmittel, um ins Handeln zu kommen, in die Zukunft zu denken. Lust auf mehr? Dann bestelle unsere Agile Facilitation Toolbox.
«Extreme Ownership»
- Wolfgang Jenewein illustrierte «Extreme Ownership» durch die amerikanischen Navy Seals (Eliteeinheit). Was braucht es, um gemeinsam unter lebensbedrohlichen Umständen Erfolg zu haben? Ehrgeiz? Heldentum? Stärke? Nein! Maximale gegenseitige Hilfe für den gemeinsamen Erfolg. Dies bedarf grossen Vertrauens und der Grösse, sich helfen zu lassen. Hier ein einfacher Tipp, über dessen Wirkung ich selbst immer wieder erstaunt bin: strebe bewusst danach, alle Aufgaben möglichst immer durch zwei oder mehr Mitglieder zu bearbeiten. Einzelarbeit sollte die Ausnahme sein. Dies fängt schon mit der Grösse der Aufgabenpakete an. Viel Inspiration dazu liefert Jeff Sutherland in «The art of doing twice the work in half the time».
- Noch was steckt in «Extreme Ownership»: die Haltung «No blaming. No complaining. No excuses». Frei übersetzt: «Frage nicht, was das Team für dich tun soll, sondern was du für das Team tun kannst». Wer kennt sie nicht, die Klagekultur? Immer sind alle anderen und die Umstände Schuld. Hier eine Idee, daraus auszubrechen gibt es in Liberating Structures: «15 % Solutions».
Soweit einige der Impulse, die bei mir aus dem Agile Leadership Day & Business Agility Day entstanden sind. Probiere die eine oder andere Idee doch einfach mal aus! Hast du Fragen zur Umsetzung, Bedarf nach weiteren Ideen oder einfach mal einem Sparringpartner für deine aktuelle Herausforderung? Dann melde dich bei mir, ich freue mich auf einen unverbindlichen Austausch! Und nicht vergessen: bestelle die Agile Facilitation Toolbox.
[1]Kohärente Darstellung in «The Systems View of Life» von Fritjof Capra (dem Autor u.a. von «Wendezeit»).